Eine Weihnachtsgeschichte

Während andere feiern, fährt Kurt die Strassenbahn durch die nächtliche Stadt. Dieses Jahr hatte es ihn erwischt. Eingeteilt war er geworden von Hugentobler, diesem Idioten. Er hatte noch versucht abzutauschen, aber niemand war bereit gewesen, seinen Dienst zu übernehmen. Ungerecht war das, denn schon letztes Jahr musste er an Heiligabend die längste Strecke abfahren, die es im Raum Basel gibt. Hugentobler hatte nur bedauernd mit den Schultern gezuckt. «Einer muss es machen!» hatte er gesagt und war gegangen.

So sitzt er jetzt im Führerstand der Linie 10 und ruckelt durch die nächtliche Stadt. Überall leuchten die kitschigen Weihnachtsdekorationen, wie wenn es keine Stromengpässe gäbe. Kurt regt sich auf.  Am Aeschenplatz erleichtert sich ein Betrunkener bei der Litfasssäule. Sofort legt sich Kurts schlechte Laune. Der Säufer besudelt das Plakat, das ein Konzert mit André Rieu ankündigt. Dafür hätte er ihm gerne einen ausgegeben, wenn er gekonnt hätte. Aber er kann ja eben nicht, weil er ganz vorne im leeren Tram sitzt und die Minuten bis zum Feierabend zählt.

Je mehr es stadtauswärt geht, und je bewohnter die Häuser sind, desto mehr sieht er hinter den Scheiben geschmückte Tannenbäume; Menschen, die sich zuprosten. Kurt macht sich keine Illusionen. Viele Fenster sind schwarz, aus noch mehr Fenstern dringt das verzweifelte Flackern der Bildschirme. Er stellt sich die Einsamen vor, wie sie versuchen zu vergessen, dass heute das sogenannte Fest der Liebe gefeiert wird. «Sie könnten ja heute Tram fahren!» sagt Kurt laut und erschrickt. Ich rede schon mit mir selbst, denkt er, ich muss aufpassen, dass mir das nicht passiert, wenn andere zuhören. Auf seinen Monitoren sieht er, dass der Wagen leer ist, während es über verschneite Felder Richtung Rodersdorf geht.

Als er in Therwil losfährt, sieht er wieder die Wegkreuze an jeder Gabelung. Das kommt vom Kloster in der Nähe, sie fallen auf, weil es so viele sind. Das ist ein anderes Christkind, als das, von dem an Weihnachten immer gefaselt wird, denkt Kurt. Es ist gar nicht schön und gar nicht lieblich, dieses Christkind der Wegkreuzungen; es hängt am Kreuz und das passt besser zur Welt, in der er lebt.

Nach der Haltestelle Bättwil macht das Tram eine scharfe Rechtskurve, und fährt während ein paar Minuten durch Frankreich. Gerade als die Bahn wieder nach links abbiegt Richtung Leymen, sieht Kurt weiter vorne auf den Schienen ein Licht. Er bremst, nicht scharf, das Licht ist noch genügend weit weg, jetzt sieht Kurt, dass ein grosser Tannenbaum neben dem Gleis schön geschmückt ist, bis ganz oben. Ein Mönch steht auf dem Gleis und winkt mit einer dieser Militärtaschenlampen. Kurt hält an, der Mönch kommt zur Fahrertüre und sagt: «Steig aus, mein Freund, wir feiern. Stell dich einen Moment mit zu uns, der nächste Kurs kommt ja erst in zwanzig Minuten». Kurt weiss nicht, wie ihm geschieht, jedenfalls steht er mit einem Mal mitten in einer Gruppe ausgelassener Menschen, die «Oh du Fröhliche» singen, jemand drückt ihm einen warmen Becher Punsch («Er ist ohne Alkohol!») in die Hand, Geschenke werden verteilt, auch Kurt kriegt ein Päckchen. Alles ist wie in einem Traum.

Der Mönch liest die Weihnachtsgeschichte vor. Kurt kommen Tränen. Er erinnert sich noch vage an die Geschichte mit dem Kind in der Krippe und den Engeln auf den Feldern. Tief in seinem Innern klingt etwas an. Friede auf Erden. Friedlich ist sie nicht, die Erde, sie ist gar nicht friedlich, aber hier, mitten im Nirgendwo ist es friedlich. Schätzungsweise dreissig Leute haben sich versammelt. Kurt hört Elsässisch und Französisch und irgendeine afrikanische Sprache. Vor allem hört Kurt viel Lachen; er sieht fröhliche Gesichter; gerötet vom Stolz auf die spontane Weihnachtsfeier für einsame Passagiere. Erst jetzt sieht er, dass auch der Kurs nach Basel angehalten hat. Auch die nach Basel wollten, singen fröhlich mit. Seine Kollegin Lisa prostet ihm zu. Niemand schimpft, die Strassenbahn beleuchtet den Wald. Weiter vorne sieht Kurt die Lichter von Leymen. Der Mönch kommt zu Kurt: «Frohe Weihnachten!» sagt er. Kurt sagt nichts. Er kann nicht. Er hat einen Kloss im Hals, weil er so glücklich ist und unbeschwert. Hätte er seinen Kurs abgetauscht, hätte er das nicht erlebt. Der Mönch begleitet ihn zu seinem Tram. Kurt weiss nicht, wie lange er bei der Tanne gestanden hat. Es ist auch egal. Der nachfolgende Kurs ist jedenfalls noch nicht da. Kurt fährt weiter. Auf der Ablage liegen die FCB-Socken, die der Mönch ihm geschenkt hatte. Als er in Leymen einfährt, blickt er auf die Uhr. Er ist pünktlich.

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